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Eröffnugsrede Galerie art]n
von Esther Klippel, 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,
ein schwarzer Tisch, schwarzer Hintergrund, Blaubeeren! Dieser Gedanke, dieser "Geistesblitz", stand am Anfang dessen, was wir hier heute verwirklicht sehen. Und ich freue mich sehr, Ihnen die Künstlerin Helen Jilavu und ihre Arbeit "Transit" vorstellen zu dürfen.

Auf den ersten Blick sind Ihre Fotografien einfach – – schön, hoch ästhetisch. Sie kommen uns bekannt vor, lassen Stilleben des niederländischen Barock vor unserem inneren Auge auftauchen, wo kunstvolle Arrangements aus Blumen, Insekten, Früchten, Gegenständen vor einem dunklen Font aufleuchten, in ungefährer Augenhöhe mit uns, dem Betrachter, der Betrachterin. Beim genauen Hinsehen ist auch schon das Welken zu erkennen, der Verfall, Andeutungen auf die Endlichkeit alles Lebenden.

Doch sind im Unterschied zum Stillleben die Fotografien Helen Jilavus auf das Wesentliche reduziert: statt einer wohlkomponieren, üppigen Inszenierung aus Blumen, Insekten, Früchten, Gegenständen konzentriert sich der Bildinhalt auf eine einzelne Pflanze. Einige von ihnen erscheinen dabei so, als habe man sie gerade erst gepfückt oder aus der Erde gegraben und wie zufällig auf den dunklen Tisch gelegt. Andere liegen scheinbar schon sehr lange dort, sind zerfallen, vertrocknet. Mal sind nur Blüten und Zweige sichtbar, sehr oft aber begegnet uns die gesamte Pflanze mit ihrem Wurzelwerk. Das lässt sie verletzbar erscheinen, fast als sei sie nackt.
Es ist eine besondere Gabe Helen Jilavus, nicht nur auf ihre untrügliche Intuition zu vertrauen, sondern auch auf die Wirkung dessen, was ihr Gespür sie finden lässt. Sie lässt die Zartheit der Pflanzen, ihre einfache Schönheit ganz für sich sprechen, verzichtete bei den ersten Aufnahmen sogar auf eine Lichtsetzung sondern nutzte allein das Restlicht des abgedunkelten Raumes für deren Beleuchtung.
In jedem dieser Bilder, und in jedem auf seine eigene Weise, entfaltet sich dadurch eine ganz eigene Magie. Ein Zauber, der uns bannt und uns anlockt, betört – so, wie es Pflanzen mit Bienen zu tun pflegen.
Ein neuer Raum entsteht, eine zweite Ebene. Die Fotografie, eigentlich Umwandlung eines Körpers ins Zweidimensionale, zieht uns hier hinein in ihre Tiefe, wird dreidimensional. Der schwarze Hintergrund der Bilder wird zum imaginären Raum, den wir füllen - mit eigenen Assoziationen, Gedanken, Erinnerungen. Die Pflanzen erwachen darin zum Leben. Ihre Namen geben ihnen Persönlichkeit – Elfenspiegel, Zauberschnee, Natternkopf, Schlangenzunge – sie treten auf wie Botschafter einer unsichtbaren Welt - und mit uns in Korrespondenz.

Doch nicht genug: die Reise ins Innere der Bilder geht weiter. Bei einigen Motiven brechen weiße, geometrische Flächen das Schwarz des Hintergrundes auf. Sie scheinen die Pflanzen in ihrer Fragilität und Feinheit zu bedrohen. Sie stören das Bild, sie verstören uns. Woher kommen sie? Kaltes Licht, das durch den Schlitz einer nicht sichtbaren Türe fällt. Einer Türe, die zu einem weiteren Raum führt– vielleicht. Strahlen einer gleißenden Sonne, die den Bildraum nach oben ins Unendliche erweitert – vielleicht. Wie dem auch sei, die Reise geht weiter. Wir sollen nicht verharren. Die Serie heißt Transit, nicht Stillstand.

Die Wechselwirkung von Raum und Objekt, von Raum und Mensch hat Helen Jilavu schon in früheren Arbeiten beschäftigt. Ob im Iran, in Rumänien, in leeren Wohnungen, Fabrikhallen, im Freien. Immer wieder greift sie die Frage auf: Wo verorte ich mich? Wie  beeinflusst mich der Raum, der mich umgibt? Welchen Einfluss nehme ich auf den Raum? Wobei "Ich" hier für jeden Einzelnen steht.
Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema brachte ihr bereits mehrere Stipendien sowie 2008 die Teilnahmer an der Manifesta ein.

Zwei Bilder "fallen aus dem Rahmen" – könnte man meinen.
Das Bild "Marienblume" zeigt einen arrangierten Blumenstrauß vor weißem Hintergrund, der deutlich als Raumecke zu erkennen ist. Die Vase, in der der Strauß steht, führt diesmal zu Erweiterung des Raums, diesmal nach Osten, nach China, wo Helen Jilavu 2006 bis 2007 studierte. Auch die Pfingstrose, vom Weiß der Wand fast überstrahlt, konmt aus Asien und schlägt die Brücke zurück zu uns, nach Europa. In China steht sie symbolisch für ein schönes und kluges junges Mädchen. In der westlich-christlichen Welt ist sie die "Rose ohne Dornen", und damit ein Sinnbild für Maria – daher der Titel. Auch hier also wieder mehrere Ebenen, Räume, die sich auftun, im konkreten als auch im übertragenen Sinn.

Der zweite "Ausreißer": Blueberry Nights. Ein schwarzer Tisch, schwarzer Hintergrund, Blaubeeren – wir erinnern uns. Das erste Bild der Serie. (Der Titel ist im Übrigen keinen Anspielung auf den gleichnamigen Film.) Erst sieht man garnicht, dass etwas abgebildet ist. Man denkt man steht vor einem schwarzen Bild. Einem Barnett Newman oder einem jungen Robert Rauschenberg, in das Medium der Fotografie übertragen. Wieder ist es der zweite Blick, der die Tiefe des Bildes eröffnet, zeigt, dass uns in dieser Tiefe etwas begegnet, gegenübertritt. Hier besonders bemerkenswert: durch die vollständige "Dunkelheit" sehen wir uns unserer eigenen Reflektion stärker ausgesetzt. Der innere Raum des Bildes verknüpft sich mit dem "Außenraum" in dem wir stehen und umgekehrt.

Helen Jilavu hat diese Erschließung immer neuer Räume bereits um eine zusätzliche Dimension erweitert: für den Essenheimer Kunstverein hat sie in Ingelheim vor zwei Jahren die weißen Wände des realen Ausstellungsraumes mit breiten, langezogenen schwarzen Flächen bemalt und, indem sie diese Flächen in einem Raumwinkel aufeinander zulaufen ließ, den Eindruck erweckt als sei der reale Raum in seiner Tiefe erweitert und mit einem hinter den schwarzen Wänden existierenden Raum verbunden. Vielleicht ist damit der Künstlerin etwas gelungen, was die Wissenschaft noch nicht vollbracht hat: nämlich die Darstellung der 4. Dimension – oder wenigstens eine Vorstellung von dieser.
Hier in der Galerie arte]n richtet sich der Fokus auf die Fotografien. Ihre Sogwirkung büßen sie dennoch nicht ein.

Was mich an diesen Bildern beeindruckt und fasziniert – ich sagte das bereits zu Beginn, aber ich wiederhole es gerne noch mal -  ist, wie hier durch einfachste Mittel und eine Reduktion des Bildinhalts auf das Wesentliche, die Wirkung und der Sinngehalt um ein vielfaches potenziert/gesteigert wird. Und ihre Eigenschaft, den Gedanken des Betrachters Freiraum zu geben, ohne dabei gefällig oder beliebig zu sein.
Diese besondere Bildsprache, die - Zitat - "neben klarer Struktur auch Raum für Empfindsamkeit lässt", überzeugte auch die Jury des Pfalzpreises, der Helen Jilavu 2004 verliehen wurde.

"Stillleben", das heißt, in der strengen Übersetzung aus dem Niederländischen "Unbewegtes Dasein". Helen Jilavu hat mit "Transit" eine Bildserie geschaffen, in der es ihr durch die Erschaffung innerer Räume gelungen ist, den Stillleben Lebendigkeit und Dynamik einzuhauchen und so aus dem ewigen Schlaf des Unbewegten Daseins zu befreien.